02/07/2024 0 Kommentare
Rückblick auf ein Gespräch, das eine Lawine auslöste: Ein Abend mit Pater Klaus Mertes SJ
Rückblick auf ein Gespräch, das eine Lawine auslöste: Ein Abend mit Pater Klaus Mertes SJ
# MHdC

Rückblick auf ein Gespräch, das eine Lawine auslöste: Ein Abend mit Pater Klaus Mertes SJ
Vor ziemlich genau 14 Jahren, am 13. Januar 2010 geschah etwas, das die katholische Kirche und viele andere Institutionen verändern sollte. In seinem Arbeitszimmer empfing Pater Klaus Mertes SJ, damals Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, drei Männer, die Jahrzehnte zuvor in dieser Schule sexuell missbraucht worden waren. Einer von ihnen war Matthias Katsch, der zu einer Schlüsselfigur im Kampf gegen Kindesmissbrauch in Deutschland wurde.
„Das ist der Anfang der Geschichte“, sagt Pater Mertes, als er am 9. Januar 2024 vor rund 70 Zuhörenden im gut gefüllten Gemeindesaal der Pfarrei Heilige Familie in Berlin-Spandau von den damaligen Ereignissen erzählt. Eingeladen zu dem Gespräch hat den Jesuitenpater die Gruppe Synodale Gemeinde / Maria 2.0, diesmal gemeinsam mit der Katholischen Frauengemeinschaft (KFD) und der Spandauer Kolpingsfamilie.
Nachdenklich und eindringlich beschreibt Pater Mertes, wie aus jenem Gespräch der größte Skandal der katholischen Kirche in Deutschland der Gegenwart wurde. Im Mittelpunkt steht für ihn dabei stets die Perspektive der Betroffenen – deren Leid, deren Schutz und deren Anspruch, Glauben zu finden, wenn sie oft nach langem Schweigen über das ihnen angetane Leid sprechen. Und Pater Mertes beschreibt „die Abwehr- und Vermeidungsstrategien“ von Vielen in der Kirche, die um das Ansehen der Institution fürchten.
Der Jesuit hat sich damals als Rektor entschieden, Katsch und den anonym gebliebenen beiden anderen Missbrauchsopfern zu glauben. Und er hat einen Brief an rund 600 möglicherweise ebenfalls betroffene frühere Schüler seiner Schule geschrieben. Das Schreiben gelangte auch an die Medien, wodurch der Missbrauch öffentlich wurde.
Dieser Missbrauch war keine einmalige Handlung, keine Tat von jemandem „der sich nicht beherrschen konnte“, beschreibt Pater Mertes. Missbrauchstaten seien, in diesem Fall von zwei Patres, über viele Jahre hinweg systematisch geplant und umgesetzt worden, „aus Lust an Dominanz“ und aus Gier nach Macht, „denn das Thema Macht ist tief verborgen im Missbrauch“.
Auch Pater Mertes ist der Umgang mit dem Skandal an seiner damaligen Schule und bald auch weit darüber hinaus nicht leichtgefallen. Er kannte die Täter nicht, zumal er erst 1993 an das Kolleg kam, aber es stand die bedrängende Frage im Raum, wie es sein konnte, dass Mitbrüder jahrelang mit den Tätern „Tür an Tür“ lebten, ohne etwas zu merken.
Was ihn aber noch mehr erschreckt hat, sind jene Mitbrüder und auch hohe Amtsträger der Kirche, die von Missbrauch wussten, aber schwiegen. Diese seien zwar selbst keine Täter gewesen, „aber trotzdem vertuschten sie“, und, sofern es um Straftaten geht: „Vertuschung zum Zweck der Strafvereitelung ist selbst auch eine Straftat“.
Das war allgemeine Praxis: Täter wurden zwar aus ihrem Umfeld „herausgeholt“, sei es das Canisius-Kolleg, andere Schulen oder Kirchengemeinden. Doch sie wurden versetzt an andere Schulen oder Gemeinden, wo sie häufig ihre Verbrechen weiterführten. „Uns habt ihr vergessen“, zitiert Pater Mertes Kritik von Missbrauchsopfern an solchem Verhalten. Auch am Canisius-Kolleg hatte es schon vor jenem Gespräch 2010 durchaus Hinweise auf die Verbrechen und auch interne Untersuchungen gegeben, die jedoch weitgehend folgenlos geblieben waren.
„Täter müssen benannt werden, damit die vielen Opfer die Chance haben, sich zu melden“, fordert der Jesuit weiter unter Hinweis auf die vielen hunderte, wahrscheinlich tausende Opfer. Diese müssten bei der Aufarbeitung der ihnen angetanen Verbrechen einbezogen werden. Ihnen dürfe aber nicht die Verantwortung dafür aufgeladen werden. Und die Aufklärung, betont Pater Mertes, könne nie allein von innen kommen, denn „ein monarchisches System kann sich nicht selbst aufklären“.
Der Jesuit würdigt im Gespräch mit Moderatorin Waltraud Eckert-König und mit Teilnehmenden der Veranstaltung Fortschritte, die es in den vergangenen Jahren bei Aufklärung und Prävention in der Kirche gegeben hat. Er selbst sei mehrfach sogar von weltlichen Einrichtungen eingeladen worden, die sich Tipps und Hilfe im Umgang mit Missbrauch in ihren Reihen erhofften. Doch auch sonst habe sich seit jenem Januartag „viel bewegt“, Probleme würden offener angesprochen.
„Die katholische Kirche ist bei der Prävention inzwischen gut aufgestellt“, stellt Pater Mertes fest. Konkret nennt er unabhängige Meldestellen, eine neue Beschwerdekultur und mehr Reflexion etwa über „Distanz und Nähe“ zu Schutzbefohlenen. Er selbst wurde für seine Aufklärungsarbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Dennoch – einen Schlussstrich werde es nie geben können. „Das bleibt ein lebenslanges Thema. Wir stehen als Katholiken in diesem Schatten“, sagt Pater Mertes. Auch verweist er auf den Missbrauch und dessen Vertuschung „systemisch begünstigende Faktoren“ in der Kirche.
Dies seien jene Themen, die nun Teil des Synodalen Weges sind, um die dort aber auch gerungen wird: priesterliche Lebensformen, Sexualmoral, Machtstrukturen und die Rolle der Frau. Das Überwinden dieser Spaltungen werde, so Pater Mertes, „einen langen Atem brauchen“.
„Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht“, zitiert Moderatorin Eckert-König den tschechischen Schriftsteller und späteren Staatspräsidenten Vaclav Havel. Die Veranstaltung mit Pater Mertes war die dritte in einer lockeren Reihe. Zuvor hatte die Gruppe Synodale Gemeinde / Maria 2.0 bereits Diskussionsabende mit ZdK Vizepräsidentin Claudia Nothelle und Generalvikar Pater Manfred Kollig zum Synodalen Weg organisiert.
Benno König
Kommentare